Ein Bericht von großen und kleinen Erlebnissen mit Rückenwind

von Anke Salzburger

Als wir, also Musiker des Schulorchesters „Tunes of Wind“ und ich, deren Dirigentin, teils auch Lehrerin oder Mutter, 2016 erstmals an dem europäischen Orchesterprojekt „Orchestre Européen“ in Bordeaux teilnahmen, konnten wir noch nicht ahnen, dass dies uns die Tür zu dem großartigen Erlebnis mit dem Projekt „Sidebyside“ in Göteborg öffnen würde.

Aber so ist es eben manchmal: Der Mut, sich auf etwas Neues einzulassen, Energie in neue Projekte zu stecken, wird durch neue Perspektiven und einen enormen Gewinn an fachlichem Können und menschlichen Erfahrungen belohnt. Das gilt im Übrigen nicht nur für unsere Schüler, sondern auch für uns Lehrer.

Es kam also durch die geknüpften Kontakte in Bordeaux mit Musikmanagern des Kultur-Büros „Kultur i Väst“ (Göteborg), das neben vielen anderen kulturellen Projekten auch das inzwischen internationale Musikprojekt „Sidebyside“ fördert, zur ersten Verständigung mit der Organisatorin Petra van Kloo-Vik. „Sidebyside“ wird getragen von den Göteborger Sinfonikern, die, dem venezuelanischen Modell „El Systema“ folgend, die musikalische Jugend professionell und mit viel Elan an die klassische Musik heranführen.

Was ist aber daran für uns als Jugendblasorchester interessant?

Ja, eben genau das, was wir hier vor Ort leider nicht haben: ein großes klassisches Orchester, in dem die Schüler als Holz- bzw. Blechbläser mitwirken können.

Und natürlich die Musik: berühmte Werke der Klassik in originaler Fassung, kein Arrangement, keine Kompromisse in Sachen Besetzung, die einzigartige Gelegenheit mit professionellen Musikern zusammen zu arbeiten und auch im Konzert gemeinsam auf der Bühne zu stehen – so meine Perspektive. Außerdem: Für die Schüler waren große Klassiker wie die „Ungarischen Tänze“ von Brahms, die „Farandole“ von Bizet oder von Gustav Holsts „Die Planeten“, die u.a. auf dem Programm standen, bisher noch völlig unbekannt. Das Projekt versprach vielseitige neue Erfahrungen und Erlebnisse. Soweit die pädagogischen Argumente für den Aufbruch nach Schweden und meine Entscheidung, das Projekt in Angriff zu nehmen.

ABER: Wer kann denn 2019 mal auf das Johannisfest verzichten???

Erwartungsgemäß war die Reaktion auf meine Anfrage im Orchester zum Projekt: „Aaaaah!!!“ und zum Termin: „Oooooh nein!!!“

Meine Hochachtung gilt den Schülern Djibril Claus (7a), Chiara Bergner (8b), Leonie Sprenger (8b), Tim Henning (8b), Antonia Salzburger (8b) sowie den ehemaligen Schülern Hannah Hildebrandt und Konrad Becker, die ihr Johannisfest für das Projekt „Sidebyside“ in Schweden opferten. Klassik statt Fanfaren, intensive Workshoparbeit statt Maienzug, Festzug und Spaß beim Karussellfahren auf dem Festplatz, Verzicht auf alle geliebten Johannisfestrituale zugunsten einer Fahrt ins Unbekannte.

Die Kosten für das Projekt waren schnell ermittelt und für zu hoch befunden, was vor allem der Notwendigkeit eines Flugtickets zu schulden war. Aber mit Hilfe vor allem von der Vorsitzenden des Fördervereins Frau von Scharfenberg konnte ich Sponsoren finden, die mit vereinten Kräften dieses gewinnbringende Projekt für die Teilnehmer bezahlbar gemacht haben: der Förderverein der Friedrich-Wilhelm-Schule, die Sparkassen-Stiftung, die VR-Bank-Stiftung, die Bürgerstiftung Werra-Meißner sowie die Eschweger Stadtstiftung.

Darüber hinaus bedanken wir uns beim ETSV, der uns den Vereinsbus zum Flughafentransfer kostenlos zur Verfügung gestellt hat, sowie den Eltern, die uns bereitwillig zum Flughafen Frankfurt gebracht und dort auch wieder abgeholt haben.

Sehr spannend gestaltete sich die Organisation der Details, also die englische Online-Anmeldung durch jeden einzelnen Teilnehmer, die Einwahl in die verschiedenen Orchester. Pre-advanced, Upper-intermediate, Intermediate – so war die Bezeichnung der von uns belegten Orchester-Levels, die ein jeweils anderes Programm erarbeiteten. Die Konzerte, die man besuchen wollte, mussten Online bestellt werden (hier gab es keine englische Seite), die Noten wurden später zum Download freigeschaltet und in zwei Proben zwischen all den Sommerkonzertvorbereitungen auch noch schnell geübt. Alle Fragen wie Wer holt uns ab? Wo sind wir untergebracht? Wo sind die Proben und wie kommen wir da hin? wurden nach und nach durch unseren zuständigen Sidebyside-Mitarbeiter in Schweden, Oskar Lindvall, zuverlässig und geduldig beantwortet – an dieser Stelle bin ich dann doch dankbar, dass von meinem Schulenglisch etwas hängen geblieben ist, wenn es auch bei Weitem nicht an die Englischkenntnisse der Schweden aller Altersstufen heranreicht.

Es ist wie mit den Schulkonzerten: Die Vorbereitung ist aufwändiger als die Durchführung!

Freitags in Göteborg angekommen, konnten wir unser „Zimmer“ – wie angekündigt ein Matratzenlager im Klassenraum des altehrwürdigen Gymnasiums Hvitfeldtska – beziehen. Diese Art der Unterbringung war natürlich ein Umstand, den die Schüler hoch erfreute, der für mich allerdings eine größere Überwindung war als auf das Johannisfest zu verzichten…

Dann ging es zu Fuß in die herrliche Innenstadt zu einer schönen Sightseeing-Bootsfahrt mit einem der Paddan-Boote und einem Guide, der uns mit Göteborger Humor die Highlights der Stadt präsentierte und uns, von der Reise müde Touristen, aufs Beste, selbstredend auf Englisch, unterhielt. Der Tag war so anstrengend, dass ich auf meiner harten Matratze entgegen aller Erwartungen wunderbar einschlafen konnte.

Die Proben begannen am Samstag: alle in Stimmproben, jeder in einem anderen Raum – jeder aufgeregt Was kommt auf mich zu? Bin ich den Anforderungen gewachsen? Muss ich meine Stimme alleine spielen? Kann ich das überhaupt???

Beim (gesunden) Mittagessen in der Schulkantine gab es dann Entwarnung und aufgeregtes Erzählen über die ersten Erlebnisse. Alle waren soweit zufrieden und auch stolz, die erste Herausforderung auch hinsichtlich der englischen Sprache gemeistert zu haben. So konnte das Projekt seinen Lauf nehmen. Falls jetzt jemand denkt, dass ich ab dann Urlaub machen konnte, der irrt sich.

Nachdem ich glücklich alle in ihre Probenräume gelotst hatte, konnte ich in die Probenarbeit der verschiedenen Orchester Einblick nehmen. Die Stimmproben wurden von professionellen Musikern bzw. Musiklehrern geleitet und auch in den Stimmen aktiv unterstützt, sie wurden in Sektionsproben (Holz/Blech/Streicher) weitergeführt. Schon am Sonntag waren die ersten Tutti-Proben angesetzt. Während das Pre-advanced-Orchestra ausschließlich im Konzerthaus probte, fanden die vorbereitenden Proben der beiden anderen Orchester in der Hochschule für Musik und Drama und die Tutti-Proben in der riesigen Sportarena Scandinavium statt – alles fußläufig erreichbar, alle Abläufe bis ins Detail durchorganisiert, eine wahre Meisterleistung des Orga-Teams Sidebyside, das über 2200 junge Musiker gemanagt hat!

Natürlich musste ich auch meine E-Mail-Kontakte Oskar und Petra (in Schweden sind ja alle per du), einmal persönlich kennen lernen, hallo sagen und beiden ein kleines Dankeschön überreichen. Wie schade, dass die Stadt Eschwege für solche Gelegenheiten keine Präsente mehr ausgibt!

Neben den sechs Orchester-Workshops gab es aber noch mehr Angebote: zahlreiche Chöre in verschiedenen Alters- und Leistungsstufen, auch einen Integrationschor (!), ein Atelier für Alte Musik und einen Folk – Workshop, angeleitet von Sten Källman, den ich auch aus Bordeaux kannte und natürlich auch besuchte. Sten lud mich sofort ein aktiv mitzumachen und schon hatte es sich gelohnt, die Flöte noch schnell ins Handgepäck gesteckt zu haben. Im Gegensatz zu den riesigen Orchestern (je 300 – 400 Musiker!) war der Folk – Workshop mit ca. 10 Musikern überschaubar klein, aber fein. Durch das ungewohnte Genre und die Arbeitsweise ganz ohne Noten hatte also auch ich eine kleine musikalische Herausforderung. Obwohl ich einige Proben nicht mitmachen konnte, habe ich mich riesig gefreut, dass ich spontan im Konzert im Foyer des Konzerthauses am Dienstagabend mitspielen durfte.

Zur Freude aller Johannisfestkarussellfahrer und Achterbahn-Fans meiner Truppe erhielten alle für Montag Freikarten für den Liseberg, den größten Vergnügungspark Skandinaviens, indem gerade eine Musiksendung für das schwedische Fernsehen gedreht wurde. Wieder mal konnte ich abends gut einschlafen…

Im Scandinavium, der Sportarena, fand schließlich am Dienstagnachmittag das ganz große Konzert mit allen Chören und Orchestern und den Göteborger Sinfonikern statt. Eine junge, professionelle, gut gelaunte Moderatorin stellte die Ensembles und ihr Programm vor. Das gemeinsame Musizieren von „Somewhere“ (L. Bernstein), „Freude schöner Götterfunken“ (L.v. Beethoven), Halleluja (G.F. Händel) und dem Festivalsong „Sida vid Sida“ schweißte zum Ende die große internationale Musikergemeinschaft eng zusammen und setzten ein Zeichen dafür, wie stark uns die Musik über die kulturellen und politischen Grenzen hinaus verbindet – ein wahrhaft großes und beeindruckendes Erlebnis für uns alle!!

Der Mittwoch war für die FWS – Schüler dann endlich ein freier Tag, an dessen Ende der Besuch des großen Abschlusskonzertes im Konzerthaus anstand. Unsere Großen (Hannah und Konrad) hatten dafür noch einige Proben zu absolvieren und wir nutzten den herrlichen Tag für einen Ausflug auf die Schäreninsel Styrsö, schließlich sollte man sich die einmalige Schönheit dieser Küstenlandschaft nicht entgehen lassen. Eine kleine Wanderung auf den Aussichtspunkt auf Styrsö mit traumhaftem Blick über die Inseln und eine Portion fangfrische Garnelen für mich waren der Lohn für das gelungene Konzert am Vortrag.

Im Abschlusskonzert abends brillierten Konrad und Hannah mit ihrem Pre-advanced-Orchestra zusammen mit den Göteborger Sinfonikern sowie der Jugendchor unter Verstärkung von Profisängern und schließlich das Advanced-Orchestra, in dem wir sogar einige Bordeaux – Musiker wiedererkannten, ja so klein ist die Welt.

Aber neben diesen großen Erlebnissen gab es auch viele kleine, unvergessliche Momente, die jeder für sich persönlich mit nach Hause nahm.

Einen davon verrate ich gerne: Meine Musiker haben spontan in der Pause einer der Proben die anderen mit dem schwedischen Volkslied „Vem kan segla förutan vind“ (übersetzt: Wer kann ohne Wind segeln?) aus dem Sommerkonzert 2018 auswendig und mehrstimmig zum Staunen gebracht – und mich auch.

Mal sehen, wohin uns der Wind in Zukunft noch treibt!